Ungesunde Getränke

Kürzlich im Regionalexpress zwischen Bochum und Dortmund: Alle Wagen sehr voll, Platz finde ich nur noch ganz hinten, da, wo die Klappsitze sind und die Leute mit Fahrrädern. Drei Plätze sind besetzt: Eine Frau mit Haaren wie Hanf und kleinen Kopfhörern im Ohr. Daneben ein Junge in sackigen Blue Jeans und einem schwarzen T-Shirt, auf dem in verwelkenden Lettern der Band Sepultura gehuldigt wird. Neben ihm eine Tasche aus LKW-Plane. In der Mitte des Wagens ein dunkelhaariger Mittzwanziger in engen Radlerhosen und dem grünen Trikot des Erstplatzierten in der Sprintwertung, ein Erik Zabel mit Bauchansatz.

Sepultura nimmt eine Flasche aus der LKW-Plane und bietet sie Zabel an. Der will wissen, was drin ist. Keine Ahnung, meint Sepultura, aber auf jeden Fall sei es ungesund - für Zabel Grund genug, einen tiefen Schluck zu nehmen.

Ja, ja, der Mensch und seine Vorliebe für ungesunde Getränke. Zwischen Dorstfeld und Dortmund Hauptbahnhof hänge ich sentimentalen Gedanken nach. Da waren zum Beispiel die Weine, die Ivo und seine Brüder im Keller selbst herstellten, und zwar in den Geschmacksrichtungen Banane, Ananas und Kirsch. Wohlgemerkt: Weine! Die Weine der Brüder hatten nur eine einzige Aufgabe, nämlich Schmerz und Elend zu erzeugen, und diese Aufgabe erledigten sie mit Bravour. Wer mehr als ein Glas von diesem Zeug zu trinken imstande war, der fand es auch toll, beim Sex in einer Lederschaukel zu hängen und von einer sechzigjährigen Domina mit einem Nagelhandschuh verwöhnt zu werden.

Und doch gewinnen diese Fruchtweine nur die Bronzemedaille bei der Olympiade der ungesündesten Getränke, die ich in meinem Leben zu mir nehmen durfte. Silber geht an den Johannisbeer-Obstler, den ein wegen Körperverletzung vorbestrafter Busfahrer meinen Eltern in der Schrebergartenanlage in Wiemelhausen zum Geburtstag schenkte. Monatelang stand der bei uns im Kühlschrank unangetastet herum, und jedes Mal, wenn mein Vater die Tür öffnete und auch nur daran dachte, von dem Zeug wenigstens zu kosten, zog ein selten gesehener Hauch von Angst über sein Gesicht. Er hat das Zeug dann dazu benutzt, im Keller eine alte Truhe abzubeizen.

Irgendwann wechselten meine Eltern in die Kleingartenanlage Engelsburg e.V., in Stahlhausen, und hier kollidierte ich im Zuge einer Geburtstagsfeier mit dem wohl auf ewig unangefochtenen Goldmedaillengewinner, was merkwürdige Flüssigkeiten angeht. Ein eher grobschlächtiger Gartennachbar meiner Eltern kam im Laufe eines zwanglosen Beisammenseins auf mich zu und sagte: »Samma, du hass doch studiert, ne?«

»Allerdings.«

»Dann trink ma dat hier, dat macht n Mann aus dir!«

Mit diesen Worten stellte er eine Cola-Flasche vor mich hin, die bis zum Hals mit etwas gefüllt war, das aussah wie der Himmel über dem Krupp-Gelände, an einem wolkenlosen, strahlenden Tag: sehr hellblau. Ich fragte, wie man das Zeug nenne, und der Nachbar sagte: »Dat? Dat ist Wodka Wick-Blau.«

»Entschuldigung«, gab ich zurück. »Ich habe Wodka Wick-Blau verstanden.«

»Genau darum gehdet, Junge.«

Wodka Wick-Blau wird folgendermaßen hergestellt: Man leere eine 1-l-Flasche Cola, Fanta, Sprite, Lift oder sonst was, spüle sie gründlich aus, kippe 0,7 1 Wodka hinein und gebe eine Tüte Wick-Blau Hustenbonbons hinzu. Das Ganze lasse man ein paar Stunden stehen und schüttele es von Zeit zu Zeit gut durch - fertig!

Wie das schmeckt? Nun, schmecken ist hier sekundär, aber der Geschmack des Wodkas ist als eher rezessiv zu bezeichnen, jener der Hustenbonbons eindeutig als dominant. Und zunächst passiert auch mal gar nichts. Das erste Pinnchen rauscht in den Magen, und man hat den Eindruck, man muss nie wieder husten. Beim zweiten Pinnchen kommen einem erste Zweifel und nach dem dritten sieht man plötzlich die Tierchen im Rasen ganz groß, obwohl man sich gar nicht erinnern kann, umgefallen zu sein. Wodka Wick-Blau gehört zu den Getränken, die sich partisanenartig von hinten anschleichen und ihrem Opfer blitzschnell und beinahe lautlos den Garaus machen. Oder, um es noch deutlicher zu sagen: Wodka Wick-Blau ist vor allem für den ungeübten Trinker das, was Lee Harvey Oswald für John F. Kennedy war - eine sehr böse Überraschung.

Kurz bevor wir alle in Dortmund aussteigen, reicht Erik Zabel die Flasche an die Frau mit den Hanf-Haaren weiter. Sie schüttelt den Kopf, trinkt aber trotzdem. »Schmeckt wie Froschpisse!«, konstatiert sie ruhig, und ich springe durch die gerade sich öffnende Tür, bevor sie erzählen kann, woher sie den Geschmack kennt.

 

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